Das große Beizen
Eine breite Metallabdeckung fährt wie bei einem Raketensilo langsam auf. Vier Tonnen Stahldraht heben sich aus einem zimmergroßen Säurebecken und passieren schwebend den Durchgang nach draußen. Weißer Dampf steigt zur Decke auf, Flüssigkeit fließt und tropft in großen Mengen von dem Drahtring ab, der an einem Haken durch die Luft transportiert wird. Es ist warm und als zuschauende Person sollte man die Hände jetzt lieber in der Hosentasche lassen.
Was für einen Laien gefährlich klingen mag, ist für einige unserer Mitarbeitenden Alltag und Routine. Sowohl in Homberg (Deutschland) als auch in Museros (Spanien) gibt es eine Drahtvorbehandlung (WBA), die unseren Werkstoff auf die Kaltumformung vorbereitet. Es ist der erste Prozessschritt nach der Anlieferung und bildet die Grundlage für alles andere. In Homberg werden so jeden Tag rund 300 Tonnen Draht bearbeitet und anschließend in das eigene Werk, aber auch nach Osterode (Deutschland) und Turnov (Tschechien) transportiert. Ein LKW fährt pro Tag nach Tschechien, gleich vier machen sich auf den Weg nach Osterode. Andere Werke überlassen diesen Schritt aus logistischen Gründen externen Dienstleistern.
Die Drahtvorbehandlung hat vor allem ein Ziel: die Oberfläche des Stahls für die Umformung vorzubereiten. Die bei der Umformung entstehende Reibung des Drahts muss minimiert werden, ansonsten verschleißen die Werkzeuge zu schnell. Das angelieferte Rohmaterial hat meist noch eine sog. Zunderschicht. Diese entsteht beim Walz- und Glühprozess der Drahtherstellung. Ist diese Schicht erstmal aufgelöst, geht es darum, eine neue aufzutragen, die die Umformung überhaupt erst möglich macht. Doch wie genau läuft das ab?
Das Beizen ist der Vorgang, der bei der Drahtvorbehandlung am häufigsten wiederholt wird. In den fünf Bädern wird sichergestellt, dass wirklich alles weg ist, was wir nicht auf der Oberfläche haben wollen. Danach ist die Stahloberfläche mikroskopisch rau, mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Das aufgetragene Phosphat glättet diese aus und bildet eine Schicht, an der das Schmiermittel Polymer haften bleibt. Viel braucht es davon übrigens nicht, wir tragen immer nur wenige Gramm pro Quadratmeter Stahl auf.
Lange hält die Schicht aber auch nicht: vor der Wärmebehandlung werden alle Schichten wieder entfernt, da es in Kombination mit den hohen Temperaturen in den Öfen die Eigenschaften des Materials negativ beeinflussen würde. Doch das ändert nichts an der Bedeutung der WBA. „Wir leiten mit unserer Arbeit den gesamten Produktionsprozess ein. Wenn wir patzen, geht es hinten nicht weiter“, sagt Kevin Repp, der die Homberger Drahtvorbehandlung leitet. Gleichzeitig ist die Arbeit nicht ungefährlich. Das Team ist rund 50.000 Litern ätzenden Stoffen ausgesetzt, die nicht nur Zunderschichten beizen würden, sondern auch eine ätzende Wirkung auf die Haut haben. Deshalb gehören Atemmaske, Schutzanzüge und -brille zur Ausstattung.
Viel spielt sich auch hinter den dicken Wänden der Anlage ab. „Wir analysieren regelmäßig alle Prozessparameter, machen täglich mehrere Messungen der Konzentrationen, PH-Werte, Temperaturen und halten diese in Protokollen nach“, erklärt Kevin Repp. Eine Wissenschaft für sich. Ist die Beiztemperatur nämlich zu hoch, kann es sein, dass der Werkstoff „angefressen“ wird. Ist sie zu niedrig, verpufft der Effekt. Da die Drahtdurchmesser unterschiedlich dick sind, gibt es kein allgemeingültiges Rezept.
Das braucht es aber auch nicht, denn unabhängig von den Eigenschaften des Materials haben wir in den letzten Jahrzehnten den Prozess so perfektioniert, dass sich die Qualität immer weiter verbessert hat. Wir arbeiten weiterhin an Möglichkeiten, die uns nach vorne bringen und nur in sehr seltenen Fällen ist ein Draht für die Kaltumformung nicht optimal vorbereitet.
KXpress